Ich habe lange überlegt, ob und wie ich mich zum Rücktritt von Andrea Nahles äußere. Es gibt natürlich auch Leute, die bereits Minuten nach der Rücktrittsmeldung sofort genau wissen, was jetzt das Richtige ist. Um ehrlich zu sein, ich weiß es im Moment nicht. Für mich ist das ein Schock. Nicht nur, weil ich davon mitten auf der ADFC-Sternfahrt erfahren habe, als wir für die SPD Friedenau Flagge zeigten, sondern vielmehr deswegen, weil ich Andrea seit 24 Jahren kenne.
Ich habe Andrea 1995 als Juso-Bundesvorsitzende gewählt, als die Jusos eine totale Lachnummer und von Männern komplett kaputt gewirtschaftet waren. Die Kommentare waren damals: sie ist nur eine Notlösung, eine unpolitische Kandidatin und hat nichts drauf. Zwei Jahre später wählte ich Andrea wieder. Mit gutem Gewissen, denn sie hatte den Juso-Bundesverband aus der jahrelangen Krise und Bedeutungslosigkeit heraus manövriert. Die relevante Juso-Kampagne damals: der solare Umbau der Industriegesellschaft! So aktuell wie heute!
Und sie wurde die erste Juso-Bundesvorsitzende seit Gerhard Schröder, die tatsächlich den Sprung in die Bundespolitik schaffte.
Am Anfang nur kurz, weil sie aufgrund ihrer innerparteilichen Gegnerschaft zu Gerhard Schröder mit einem schlechten Listenplatz abgestraft wurde. Diesen Abend im Willy-Brandt-Haus 2002 werde ich nie vergessen! Ebenso nicht ihre klare Parteinahme gegen die Hartz IV Gesetzgebung, als sie Gerhard Schröder zu Recht als Abrissbirne der SPD-Programmatik bezeichnete.
2005 zog Andrea wieder in den Bundestag ein und wagte den Aufstand gegen die Schröder-Müntefering-SPD. Sie kandidierte als Generalsekretärin und gewann gegen den Apparatschik und heutigen Konzern-Lobbyisten Kajo Wasserhövel. Ein Sakrileg für die Wahlversprechen-Brecher Müntefering und Co. aus NRW und Niedersachsen (Stichworte Rente mit 67 und 3 % Mehrwertsteuer-Erhöhung).
2009 wurde sie dann endlich wirklich Generalsekretärin und organisierte einen partizipativen Prozess zum Wahlprogramm und eine professionelle Wahlkampagne. Von beiden konnten wir im nachfolgenden Wahlkampf 2017 nur träumen (schönen Gruß an die nachfolgenden Generalsekretärinnen)!
Das Andrea anschließend die wichtigste Bundesministerin in der Zeit 2013-2017 war, bestreiten nicht mal die Konservativen. An den Komplettversager als Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel möchte ich an dieser Stelle keine weiteren Worte verlieren.
Auch wenn ich in der Frage der Neuauflage der Großen Koalition mit Nein gestimmt habe, hatte ich zumindestens die Hoffnung, dass es Andrea gelingt, den Spagat zu meistern. Als Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD Profil zu geben und gleichzeitig für die Menschen zu regieren. Dass es ihr nicht gelungen ist und sie letztlich an dieser Aufgabe gescheitert ist, macht mich wirklich traurig und auch ratlos.
Für mich bleibt eine Andrea Nahles, die herzlich und offen zu den Menschen ist, wie ich es sonst nur von Wenigen in dieser Partei erlebt habe. Für die internationale Solidarität keine Worthülse ist – das Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem wäre ohne die Unterstützung von Andrea nie möglich gewesen. Das mediale Zerrbild ist für mich bis heute ein Rätsel. Keine Frage, dass Andrea ihre Schwächen und auch strategische Fehler gemacht hat. Aber für mich war und bleibt Andrea ein Vorbild als Sozialdemokratin, im Übrigen auch was ihren Abschied anbetrifft!
Matthias Geisthardt
(Vorsitzender der SPD Friedenau)